30 Jahre gestalterische Praxis und ästhetische Theorie: Wie sieht die Lage aus? Die Lage in pandemischen Zeiten, mitten in der digitalen Transformation und im Postwachstum? Aktionismus oder totaler Rückzug? Den Blick nach vorne oder nach hinten? Jedenfalls jetzt erstmal ein Handbuch zur Lage. Mit Samples aus Texten und im Archiv verstaubt geglaubten Bildern, Räumen und Aktionen. Und siehe da: Auf einmal scheint vieles zusammenzupassen!
Unter den Kategorien Zeit, Ort und Vermittlung finden sich Themen und Programme zur Historisierung, zur Gestaltung von realen und mentalen Räumen sowie Positionen der Vermittlung für diejenigen, die dabei waren und die, die es wissen wollen.
Ich möchte lieber nicht
(Seiten 60 bis 63)
Wenn der Schreiber Bartleby auf die Aufforderung seines Arbeitgebers, er möge ein Schriftstück mit ihm durchsehen unerwartet retourniert: „Ich möchte lieber nicht.“ (Melville, 2011, S.25) beginnt das Drama eines der eindrucksvollsten literarischen Zeugnisse der Verweigerung seinen Lauf zu nehmen. Bartleby der Schreiber von Herman Melville und Oblomow von Iwan Gontscharow bilden zusammen ein vorzügliches Duo unter den Protagonisten der Verweigerung, deren beider Geburtsstunde sich in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts vollzog. Zwei literarische Figuren in Zeiten der industriellen Revolution leben ihre private Revolte, indem sie der rasenden Weltenergie Verweigerung und Zurückhaltung entgegensetzen.
Schauen wir weiter zurück, in die Zeit des so umtriebigen Barock, als alle ausschwirrten, zu entdecken, einzuteilen, zu sammeln und damit auch zu zweifeln, denn es war offensichtlich zu Ende mit den Regeln eines universellen Gottes. Man versuchte die Zeit an den Raum zu koppeln, indem man Verbindlichkeiten der Individuen und deren Welt als Chronologien optimierte. Für die Orientierung der Individuen in deren eigenen Lebenswirklichkeiten war die Historisierung das, was die Entdeckung der Längengrade für die Synchronisierung der Welt war. Damit bekamen die Menschen ihre Geschichte und die Welt ihre Zeit. Besitzansprüche und Ökonomisierung erlangten erstmals globale Dimensionen, denn die Vermessung von Zeit und Raum macht diesen quantifizierbar und die Zeit standardisierbar. Neben all den Reisenden, Forschenden, Besetzenden und Ausbeutenden entstand aber nun auch so etwas wie eine Gegenbewegung: die Spieler und Spinner, die die Zeit und den Raum ästhetisch in Geschichten und Bilder transformierten. Auf einmal wurde klar, dass die größten Reisenden, diejenigen waren, die ihre Parzelle nicht verließen. Nämlich diejenigen, die Virtualität als effizientestes Prinzip der Realität auslebten, kamen damit viel weiter (Gullivers Reisen) und schneller (In 80 Tagen um die Welt) vorwärts. Nämlich als Poeten, die sich dem Aktionismus erfolg-reich widersetzten.
Anhand postkapitalistischer Spaßbremsen des 21. Jahrhunderts, etwa aufmüpfige Schüler_innen oder infizierte Fledermäuse, werden Strategien des Unterlassens wohl oder übel immer attraktiver. Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah scheint sich aktuell als das passende Motto dem Frust, ausgelöst durch Einschränkung des Wirkungsradius und Freiheitsentzug, Trost zu spenden. Es liegt dann nahe, den großen Unterlassern und Verweigern Gehör zu schenken. Die, die sich freiwillig zurücknehmen und somit als Spezialisten der Askese vorbildlich den Wahnsinn des globalen Aktionsüberschuss konterkarrieren. Denn auch andere Asketen, die der spirituellen Programme und der Geist-Körper-Übungen, können über Zulauf nicht klagen.
Was lehrt uns diese Lebenspraxis im Zeitalter der Demontage ökonomischer und kapitalistischer Progression? Wie gerne haben wir unsere Kraft vergeudet, uns in der Notwendigkeit sisyphotischer Energie gesuhlt um dann noch schnell um die Welt zu fliegen und wieder zurück. Ob nun aus Erholungszwecken oder vorgeschobenen Gründen, das Motto gegenwärtig tritt immer deutlicher ans Licht: Stillstand ist geboten! Jetzt heißt es einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen,… denn es bleiben uns nur zwei Möglichkeiten: Entweder ergeben wir uns widerwillig den Restriktionen pandemischer Isolation oder wir gestalten ein angemessenes Selbstverständnis hin zur freiwilligen Askese.
Neben den fiktionalen Außenseitern Bartleby und Oblomow finden wir in den ästhetischen Strategien der bildenden Kunst authentische Selbst- und Gemeinsamkeitsverwirklichungen. Augenscheinlich wird die Zurückhaltung hier mindestens in zwei Grundhaltungen evident: in der Minimierung der Mittel und in der Auflösung bzw. Auslöschung des Werkes an sich. Spätestens nach dem zweiten Weltkrieg arbeitete sich die Kunst an diesen Themen ab und bildete so eine gegenläufige Bewegung zu Fortschritt und Wachstum. Was läge nun näher uns an diesen Programmen aktuell zu orientieren? Vielleicht bieten diese Hilfestellungen in Zeiten des Postwachstumsimperativ?
Inspiriert von der chinesischen Malerei und dem japanischen Zen helfen asiatische Ästhetiken der westlichen Kunst auf ihrem Weg in das Nichts. Als Yves Klein 1958 erstmals seinen Raum der Leere präsentierte, die Minimal Art ihre Darstellungsmittel gegen fast Null herunterschraubt, oder der Performer Chris Burdon sich 1971 tagelang in ein Uni-Schließfach einschließen ließ, ist nicht nur die Kunst (fast) verschwunden, sondern der Künstler ebenso. Die Richtung ist klar: das Kunstwerk gelingt erst dann, wenn man sämtliche ästhetische Bezüge von Könner- schaft, kultureller Größe und Genialität außen vorlässt. Man tut etwas, indem man es nicht tut. Das Nichtgeschehene erhält als Veräußerungsform des Verhinderns Einzug in die Traditionen der moralischen Verbote: Du sollst nicht töten (christlich, religiös) oder Du darfst Deine Umwelt nicht zerstören (ökologisch).